Professor Dr. Jürgen Schmidt, Universität Marburg - Direktor Forschungszentrum Deutscher Sprachatlas

 

Liebe Trauergemeinde,

 

wir sind hier in seiner Heimat zusammengekommen, um Abschied zu nehmen von Jost Nickel. Seine Marburger Freunde und Kollegen haben ihm viel bedeutet. Wir verdanken ihm unendlich viel. Er hat das große Werk, das er in den letzten acht Jahren zusammen mit uns geschaffen hat, oft als „sein Kind“ bezeichnet. Von diesem wissenschaftlichen Kind schrieb er in der vorletzten E-Mail an mich wörtlich: „das ergebnis meiner arbeit ist derzeit leider nur ein onlineatlas, der weltweit seinesgleichen sucht.“

 

Unfassbar, welche prophetische Wahrheit ein solcher in einer E-Mail hingeworfener Satz innerhalb von drei Wochen gewonnen hat. Man muss nur das Wort „derzeit“ streichen. Dann stimmt der Satz angesichts des Todes: Sein Lebenswerk ist ein Online-Atlas, der weltweit seinesgleichen sucht. Es stimmt aber tragischerweise auch das „leider nur“. Das große Atlaswerk sollte ja nur der erste Schritt einer technischen Revolution der Sprachgeographie sein. Am zweiten Schritt hat Jost in den letzten drei Jahren mit aller Kraft gearbeitet.

 

Wie haben wir diesen genialen Systementwickler erlebt? Warum bedeutet er uns so viel? Was hat ihn an unserem Forschungszentrum so fasziniert? Jost hat Phonetik und Computerlinguistik studiert. Sprache und Computer waren „sein Ding“. Sprache ist die menschliche Kulturleistung, auf der alles andere aufbaut. Sie macht mit den Kern unseres Menschseins aus, ihr Geheimnis haben wir noch längst nicht entschlüsselt.

 

Jost war vom Abenteuer Forschung fasziniert. Alle Kontinente sind längst entdeckt, die höchsten Berge sind bestiegen. Große Entdeckungen gibt es nur in der geistigen Welt und der Technik. Hier bei dieser Entdeckerfahrt Forschung mitzumachen, hier bei den Ersten dabei zu sein, die einen Durchbruch schaffen, das hat ihn angespornt.

 

Und er hatte Glück! Er kam 2001 an das Marburger Forschungszentrum, als dort eine einzigartige Aufbruchsituation herrschte. Das älteste sprachwissenschaftliche Forschungsinstitut überhaupt, eine Institution, in der 1876, 1908 und 1960 bedeutende wissenschaftliche Entwicklungen eingeleitet worden waren, dieses Institut war kurz vor der Jahrtausendwende in der Gefahr, zu einem Museum herabzusinken, in dem nur die alten wissenschaftlichen Schätze verwaltet wurden.

 

Im Jahr 2000 hatte dann ein junges Team eine weitreichende Idee. Könnte man die alten Schätze so erschließen, dass sie exakt interpretierbar würden? Ließe sich etwa die monumentale, aber etwas ungenaue Wenkererhebung von 1880 zu über 40.000 Einzeldialekten mit den phonetischen exakten Studien um 1900 verbinden? Könnte man zudem diese alten Quellen mit den Tonbandaufzeichnungen seit 1937 koppeln und den Neuerhebungen seit 1980? Dann müsste es doch möglich sein, die Entwicklung der natürlich gesprochenen Sprache über ein ganzes Jahrhundert hinweg mit nie dagewesener Genauigkeit zu verfolgen. Dann ließe sich auf dieser Grundlage eine völlig neue Einsicht in die Prinzipien des Sprachwandels und damit in die Sprache selbst gewinnen.

 

Wer konnte die technischen Voraussetzungen für ein solches Riesenprojekt schaffen? Jost ging aus seiner Trierer Zeit der Ruf voraus, keiner zu sein, der lange redet, sondern einer, der in kürzester Zeit funktionierende Lösungen entwickelt. Deshalb haben wir ihn umworben. Er war begeistert. Ja, genau das ist es, was ich kann und will.

 

Also machte er sich – zunächst zusammen mit einem der Erfinder der GIS-Systeme, später alleine – an die Entwicklung. Wir waren tief beeindruckt. Er kam, kaufte eine große Kaffeemaschine, richtete ein hochmodernes GIS-Labor ein und entwickelte nachts das Programm. Was man kaum für möglich gehalten hätte, gelang in kürzester Zeit. In nur zwei Jahren stand das Kernsystem des sog. Digitalen Wenker-Atlasses. Er hatte ein geographisches Informationssystem mit der Technik der Satellitenbildübertragung verbunden. In höchster Qualität waren die alten, schönen und anschaulichen Karten mit über 40.000 Detailinformationen im Internet einsehbar. Jeder konnte sie sich anschauen, frei in die Karte zoomen, die Originalerhebungsbögen einblenden, sich alle zugehörigen Tonbandaufnahmen anhören und die modernen Vergleichskarten transparent überblenden. Die Laien hatten ihre Freude an den schönen Karten, die wissenschaftliche Welt reagierte mit höchster Anerkennung.

 

Innerhalb von fünf Jahren wurde der ausgebaute Digitale Wenker-Atlas zum allgemein anerkannten Forschungsinstrument. Jost wurde im In- und Ausland zum Technikpapst der modernen Sprachgeographie. Er konnte sich vor Anfragen kaum retten. Er wurde weit über Deutschland hinaus zum gefragten Kooperationspartner.

 

Leider konnte er dabei zu oft nicht NEIN sagen. Vielleicht sein größtes Problem. Zunächst aber eine ungetrübte wissenschaftliche Erfolgsgeschichte, die ihn und uns glücklich gemacht hat.

 

Dann kam das Wagnis, den nächsten großen Entwicklungssprung zu versuchen: Die „intelligente“ Sprachkarte im Internet. Eine Karte, in die die Benutzer aus der ganzen Welt selbst eingreifen konnten. Eine Karte, die man nicht bloß anschauen kann, sondern die man so umgestalten kann, dass unterschiedliche Materialgrundlagen für den jeweiligen Forschungszweck direkt vergleichbar werden sollten.

 

Hier stieß Jost an die Grenzen der heutigen Internet-Technologie, er stieß aber auch an seine persönlichen Grenzen. Die Aufgabe erwies sich als äußerst zäh und sperrig. Jost war genial, erfolgsverwöhnt und, wie alle wissen, die ihn kannten, höchst eigenwillig. Er war nicht bereit, als Chef einer Systementwicklungsabteilung die Sache zu leiten. Es war sein Kind, er wollte es alleine schaffen.

 

Wir haben an ihn geglaubt und auf sein Können und seine ungeheure Schaffenskraft vertraut. Es wurde sehr hart für ihn, alle Zeitpläne gerieten ins Rutschen, unsere und seine Nerven wurden heftig strapaziert. 2007 glaubten nur wenige von uns noch, dass er es schaffen würde. Doch das Unglaubliche wurde wahr. Im Sommer 2008 gelang ihm der entscheidende Durchbruch. Ein Prototyp wurde installiert, bei dem das technische Kernproblem gelöst war. In seinen letzten Lebensmonaten wurde jetzt Modul um Modul integriert. Er stand kurz davor, seinen früheren wissenschaftlich-technischen Erfolg auf ungleich höherem Niveau zu wiederholen.

 

Dazu ist es nicht mehr gekommen. Bei aller Kraft, die er ausstrahlte, hat er sich mehr zugemutet als auch der Stärkste verkraften kann: Fast regelmäßig große Teile der Nacht durchzuarbeiten, sich mit Unmengen an Kaffee wach zu halten, seinen privaten Lebensmittelpunkt immer wieder hunderte von Kilometern von Marburg entfernt zu haben, ständig auf Achse zu sein und vor allem: Hilfe nur äußerst schwer akzeptieren zu können.

 

Der große Wissenschaftsabenteurer, der geniale Entwickler mit dem wilden Leben! Wir trauern um ihn. Mit der Familie, seinen Freunden, den Menschen, die ihn geliebt haben. Er hat den Erfolg seiner zweiten wissenschaftlichen Entdeckungsfahrt nicht mehr erlebt. Wir werden sein Werk zum Erfolg führen. Wir wissen, was wir ihm verdanken. Sein Werk wird lange über seinen Tod hinaus Bestand haben.

 

Jost hat das Lateinische gemocht. Verabschieden wir uns in dieser Sprache:

 

Requiem aeternam dona eius, Domine, et lux perpetua luceat eis. [1]

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

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Eingangsgesang („Introitus“) der lateinischen Totenmesse, den der sterbende Mozart in seinem „Requiem“ in der vielleicht schönsten Weise vertont hat. Die deutsche Übersetzung „Herr, gib ihm die ewige Ruhe und das ewige Licht leuchte ihm“ lässt nicht erkennen, dass mit „requiem“ das erfrischende Ausruhen eines Lebenden gemeint ist und das „immerwährende Licht“ das göttliche Licht ist, in das man nach dem Tod hineingenommen wird, wie in vielen Nahtoderlebnissen berichtet wird. Was „lux perpetua“ ist, wird mit einem in meinen Augen in beeindruckender Weise in der uralten Osternachtsfeier zum Ausdruck gebracht: Nachts, in der völlig dunkeln Kirche stehen die Feiernden mit nicht brennenden Kerzen und warten. In dieser „Finsternis des Todes“ erschallt dann der gesungene Ruf „Lumen Christi“ (Licht Christi) und eine einzige große brennende Kerze wird nach vorne getragen, an der dann alle Kerzen angezündet werden und sich das Licht nach und nach über alle ausbreitet.